Lebenslust oder Frust auf Arbeit?

Kann man Mitarbeiter auf Stress vorbereiten?

Die Zunahme von psychischen Erkrankungen beschäftigen nicht nur Unternehmen. Jetzt erkennen auch Krankenkassen den Handlungsbedarf und fordern Arbeitgeber zum Umdenken auf, auf den Gesundheitsschutz der Mitarbeiter zu achten. Doch was können Unternehmen tun, um ihre Mitarbeiter vor Stress und seinen Folgen zu schützen?

Lust Frust Arbeit

Diplompsychologin Dr. Ulla Nagel, Unternehmensberaterin und Coach, war am 25. November 2014 Gast bei Henriette Schmidt im Expertenrat des MDR 1 Radio Sachsen und berichtet, wie Unternehmen gesundheitsförderliche Arbeit gestalten können.

Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Verhältnis von Gesundheit und Beruf – oder besser: von Lebenslust und Arbeit?
Dr. Nagel: Mir ist das Thema Führung und Gesundheit erstmalig 2001 in einem Callcenter begegnet. Damals dachte man: Telefonieren kann jeder und hat die Leute von der Straße her ans Telefon gesetzt. Und dann ging das plötzlich gar nicht so einfach. Die Menschen bekamen Angst, konnten nicht mehr schlafen, Tränen liefen am Arbeitsplatz. Da habe ich die erste Führungskraft erlebt, die sagte: Wir müssen etwas für die psychische Gesundheit unserer Mitarbeiter tun, sonst bleiben sie auf der Strecke. Zwei Jahre später gab es dann sogar den gesetzlichen Präventionsauftrag an die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Seit 2003 arbeiten wir dazu mit der BG Energie Textil Elektro und Medienerzeugnisse zusammen.

Sie sind selbst Geschäftsführerin. Wie motivieren Sie Ihre eigenen Mitarbeiter?
Dr. Nagel: Wir sind ein kleines Unternehmen mit vier Festangestellten und bewältigen die Aufgaben gemeinsam. Hire und fire geht da nicht, sondern die Motivation jedes Einzelnen ist wichtig, damit wir erfolgreich sind. Natürlich frage ich mich, wie gut mir Motivation immer gelingt. Ich versuche, Spielraum und Freiheitsgrade in der Umsetzung der Aufgaben zu lassen. Wir haben eine vorteilhafte Nähe, sodass Kommunikation auf kurzem Weg möglich ist. Wir können uns schnell austauschen und gemeinsam am Erfolg und Misserfolg des Einzelnen Anteil nehmen. Da entsteht ein Wir-Gefühl. Ich möchte nichts als selbstverständlich hinnehmen, sondern mich für jede Leistung auch anerkennend bedanken und darüber freuen. Man sagt uns nach: Bei uns sei die Atmosphäre professionell und herzlich. Das finde ich gut.

Der Dauerstress ist eine Ursache dafür, dass die psychischen Erkrankungen zunehmen. Es gibt keinen Feierabend und damit für
viele keine Grenze mehr zwischen Arbeit und Freizeit. Das hat mit den modernen Medien zu tun – E-Mail und Handy – man ist immer und überall erreichbar. Ist diese ständige Erreichbarkeit wirklich ein Stressfaktor?
Dr. Nagel: Die Erreichbarkeit ist ein ungeheurer Stressfaktor und vor allem ein Zeitverschlinger. Klar ist es schön, weltweit zu beobachten, wie es den Menschen geht, die ich auf meinen Wegen getroffen habe, aber ist das wirklich Beziehung oder ist das schon Voyeurismus? Ich schaue kurz von außen auf das Leben anderer Menschen, aber als wirklicher Partner bin ich nicht zur Stelle. Wir leben immer weniger im Hier und Jetzt. Wir sind in Parallelwelten aktiv: Wir sitzen zwar mit Freunden im Café, empfangen und senden aber nebenbei noch Nachrichten auf mehreren Kanälen. Treibt uns die Angst, etwas zu verpassen? Wir haben heute das Gefühl, viel zu schaffen. Ist es wirklich so? Die Auseinandersetzung mit der Technik und die Bedienung der Medien raubt uns viel Lebenszeit und inszeniert Zeitdruck. Von 1980 bis 1984 habe ich z.B. meine Doktorarbeit geschrieben- wohlgemerkt ohne PC, sondern auf der Schreibmaschine! In diesen 4 Jahren habe ich auch zwei Kinder geboren. Heute in gleicher Zeit dasselbe zu schaffen ist trotz PC kaum denkbar. Ich glaube, es ging damals, weil ich voll konzentriert und im Hier und Jetzt sein konnte. Wir hatten ja nicht einmal ein Telefon zu Hause. Im Prinzip konnte ich sehr geplant (ab)arbeiten – ohne großes Störpotenzial.

Der Chef der Barmer-Krankenkasse fordert jetzt, dass die Arbeitgeber per Gesetz dazu gezwungen werden, Mitarbeitern das
Recht auf Ruhe zuzugestehen. Klare Maßstäbe gegen Dauerstress können die Gesundheit schützen, sagt er. Was ist Ihrer Meinung
nach mit dem „Recht auf Ruhe“ gemeint?
Dr. Nagel: Einfach mal alles aus- und abschalten können, ohne Angst, dass etwas passiert, dass einem irgendetwas durch die Lappen geht, oder die eigene Passivität vom Wettbewerber zu seinem Vorteil ausnutzt  wird. Ein Gesetz bzw. klare Vorgaben sind da der Schritt in die richtige Richtung. Volkswagen hat es mit der Einschränkung des E-Mail-Verkehrs nach Feierabend vorgelebt und damit positive Erfolge erzielt. Ich freue mich persönlich sehr, dass der Gesetzgeber im Oktober letzten Jahres reagiert und das Arbeitsschutzgesetz konkretisiert hat. Psychische Fehlbelastungen sind an der Wurzel zu bekämpfen. Das hilft uns, Präventionsansätze stärker in die Unternehmen zu tragen.

Ruhezone

Sie verfolgen den Ansatz, Unternehmen im Gesamten zu betrachten, wenn es um Prävention geht. Sie sagen: So gesund das Unternehmen ist – so gesund sind auch die Mitarbeiter. Was sind da wichtige Aspekte, an denen auch die Unternehmen ansetzen können?
Dr. Nagel: Nur in gesunden Arbeitswelten kann der Mensch seine Ressourcen entwickeln. Psychische Gesundheit ist das Ergebnis eines positiven Miteinanders. In kranken Arbeitswelten wird auf die Dauer auch der einzelne Gesunde krank. Ein vitales Unternehmen, in dem die Energie fließt, erkennt man am offenen Klima. Es entsteht z.B. durch wertschätzenden Kultur, achtsame Führung und der Gestaltung sinnerfüllender Arbeitstätigkeiten.

Mehr in die Gesundheit von Mitarbeitern zu investieren lautet die klare Forderung der Krankenkassen. Wie kann das aussehen?
Dr. Nagel: Das eine ist das klassische betriebliche Gesundheitsmanagement. Hier stellen Krankenkassen verschiedene Angebote zur
Verfügung, wie Rückenschule, Yogastunden, Qi Gong usw. Das ist richtig und wichtig, um zu entspannen und den Muskel-Skelett-Erkrankungen vorzubeugen. Wir bewegen uns immer weniger. Für die Prävention psychischer Belastungen stimmen mich diese Maßnahmen jedoch noch nicht zufrieden. Wenn es um Psyche geht, müssen wir mit den Menschen reden! Die psychischen Erkrankungen brauchen eine systemische Betrachtung und eine systemische Behandlung. D.h. wir müssen kritisch analysieren, wie
wir miteinander arbeiten. Welche Werte leben wir? Welche Regeln und Verhaltensweisen helfen oder behindern uns? Für diese Analyse braucht es einen offenen Dialog zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Es gilt, gemeinsam alle Faktoren in der Arbeit zu beurteilen, die einen Einfluss auf unsere Gesundheit haben. Gemeinsam Verbesserungsideen entwickeln und umsetzen. Das ist für mich der Weg zur gesunden Organisation. In eine Gefährdungsbeurteilung gehören die Betrachtung von Geschäftsleitung, Kultur, Führung und Teamarbeit genauso hinein wie Organisation, Prozesse, Arbeitstätigkeit und Arbeitsbedingungen.

Miteinander wieder ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen. Das können ja auch kleine Unternehmen einfach umsetzen
oder bedarf es doch mehr?
Dr. Nagel: Kleine Unternehmen haben hier sogar einen Vorteil: Sie setzen sich viel schneller einmal gemeinsam an den Tisch und tauschen sich intensiver aus: Wie erleben wir die Zusammenarbeit: fachlich und auch zwischenmenschlich? Für ein strukturiertes Vorgehen in diesen Teambesprechungen gibt es hilfreiche Leitfäden. Das von uns entwickelte psy.Res®-Verfahren, das es auch als Druckbroschüre gibt, betrachtet insgesamt 10 Arbeitsfaktoren und bietet so einen guten Gesprächs- und Beurteilungsleitfaden. Größeren Unternehmen empfehlen wir eine Mitarbeiterbefragung durchzuführen, die z.B. über das Onlineportal www.psyres-online.de gesteuert und ausgewertet wird. Die Anonymität des Einzelnen wird gewahrt. Die Ergebnisse können dann moderiert im Team besprochen und Maßnahmen zur Veränderung abgeleitet werden.

Bedingungen für ein gesundes Unternehmen zu schaffen und Ressourcen in der Arbeit zu gestalten – In einem Fazit: Was braucht
es dazu?
Dr. Nagel: Es braucht vor allem den Mut des Unternehmers, sich die psychischen Bedingungen in der Arbeit anzuschauen und sich einem Feedback zu stellen. Da hat manch einer Bauchgrummeln. Aber der Frühjahrsputz im Unternehmen zahlt sich aus: Er macht die Dinge ansprechbar, die verbessert werden müssen. Häufig macht er auch einfach nur glücklich: Denn Chefs kommen oft auch viel besser an, als sie ahnen.