Wie gesund ist Homeoffice?

Mobile Arbeit setzt die Pflicht zur Prävention Psyche nicht aus.

Laptop auf der Couch

Nicht erst seit Corona ist die psychische Gesundheit in Unternehmen ein Thema. Unsere Arbeit ist wichtig für unser Wohlbefinden. Sie bringt uns neue Erfahrungen, Kontakte und das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zu leisten. Dementsprechend kann es die Psyche negativ belasten, wenn hier etwas nicht stimmt. Stress, Unterforderung, Ausgrenzung oder sozialer Rückzug sind nur einige der möglichen Folgen. Die Pandemie hat diese Situation noch verschärft: Aufgrund von Homeoffice oder Arbeitsmodellen mit größerem physischem Abstand zu Kolleg:innen fällt nicht nur der schnelle Austausch, das gute Gefühl im Team, sondern auch der Weg zur Arbeit weg. Gleichzeitig kommen Belastungen hinzu: Unsicherheit über die berufliche Zukunft, sich häufig verändernde Prozesse und fehlende Informationen bzw. Austausch machen den Beschäftigten zu schaffen. Eine Studie der Techniker Krankenkasse und der Technischen Universität Chemnitz zeigt, dass im Homeoffice die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend verschwimmen. Jeder vierte Befragte empfand diese Entgrenzung als Belastung. Andererseits hört man auch viele Stimmen, die sich für die Fortführung des Homeoffice nach der Pandemie aussprechen. Welcher Weg ist nun der richtige? Wie gesund ist Homeoffice?

Führen Ferne Koordination

Welche Vor- und Nachteile hat das Arbeiten im Homeoffice?

Die Dresdner Arbeitspsychologin Dr. Ulla Nagel fasst ihre Erkenntnisse zum Homeoffice zusammen. Sie sieht Vorteile, denen aber immer auch Nachteile gegenüberstehen.
Vorteil:
 

Man spart sich den langen Weg zur Arbeit oder die Diensteisen: Man quetscht sich nicht in volle Bahnen oder steht stundenlang im Stau.

Vorteil:
Grippewelle und Erkältungen bleiben weitgehend aus.
Vorteil:
Im häuslichen Umfeld hat man es sich gemütlich gemacht und trägt bequeme Sachen. Man spart überdies Kleidung und teuren Neukauf.
Vorteil:
Man wird weniger durch Smalltalk und Seitengespräche abgelenkt.
Vorteil:
Man hat jetzt sein Homeoffice hübsch eingerichtet: In Videokonferenzen möchte man ein ordentliches Ambiente zeigen.
Vorteil:
Homeoffice hat auch mobiles Arbeiten stark befördert. Mit virtuellem Hintergrund sieht sowieso keiner, von wo ich arbeite.
Vorteil:
Die Familie rückt näher zusammen: Man verbringt viel mehr Zeit auch in physischer Nähe zu Eltern, Kindern bzw. Geschwistern.
Vorteil:
Vater und Mutter können vielmehr Einfluss auf die Erziehung, Bildung und den Umgang ihrer Kinder nehmen.
Vorteil:
Elternpaare sind viel flexibler in ihrer Arbeitsteilung bei der Kinderbetreuung und erleben intensiver, wie ihre Kinder aufwachsen.
Vorteil:
Wenn Mann und Frau im Homeoffice sind, teilen sie sich die häuslichen Aufgaben und Pflichten gerechter: Reinigen, Kochen, Verschönern.
Nachteil:
Die Fitness lässt stark nach: Regelmäßig bewegt sich nur noch der, der bewusst Sport-Disziplin hält. Mangelnde Bewegung wirkt sich auf die Plastizität und Leistungsfähigkeit unseres Gehirns negativ aus.
Nachteil:
Psychische Erkrankungen nehmen zu.
Nachteil:
Man vernachlässigt sein Äußeres sowie seine Manieren und wird oberflächlicher im Einhalten von gesellschaftlichen Normen.
Nachteil:
Information und Wissenshäppchen fliegen uns nicht mehr zu wie im Büro. Kollektives Lernen ist erschwert.
Nachteil:
Die Ergonomie wird vernachlässigt: Verspannungen führen zu Kopfschmerzen, vegetative Störungen oder gar Bandscheibenvorfällen.
Nachteil:
Überall arbeiten zu können, führt zur Illusion, dass man mehreres nebenher machen kann. Fehler, emotionalen Ausbrennen sind Gefahren.
Nachteil:
Arbeit und Freizeit verlieren ihre Abgrenzung. Die Leistungszeit wird in Abschnitte zersplittert, die von Kinderbetreuung unterbrochen werden.
Nachteil:
Homeschooling und Homecaring neben dem Beruf überfordern Familien und können zu psychischen Belastungsstörungen führen.
Nachteil:
Die häusliche Ablenkung ist groß und verlangt viel Selbstdisziplin und Standing, um für sich ungestörte Arbeitszeit einzufordern.
Nachteil:
In Familien ohne Gleichstellung der Partner trägt die berufstätigen Mutter (i.d.R.) noch mehr Last. Sie versorgt zusätzlich Kinder und Mann.

Quo vadis Homeoffice?

Hat das Homeoffice auch außerhalb der Pandemie Bestand? Homeoffice ist nicht per se gut oder schlecht. Es ist ein Instrument, das viele Vorzüge aber auch Nachteile hat. Alles in allem kommt es wesentlich darauf an, wie gut wir die gewonnene Freiheit durch mobiles Arbeiten mit Verstand und Disziplin gestalten, meint Dr. Ulla Nagel. Das richtige Maß wird die Wirkung entscheiden. Es habe sich gezeigt, dass Homeschooling und Homecaring bei voller Berufstätigkeit auf die Dauer nicht funktionieren. Aber wir lebten im Krisenmodus, der Ausnahmen begründete. Bei geöffneten Schulen und Kindertagesstätten nehmen die Vorteile zu. Homeoffice könnte dann gerade für intensives und qualitativ hochwertiges Arbeiten zum Ort der Wahl werden.

Welche Auswirkungen von Homeoffice machen nachdenklich?

1. Körperliche Fitness: Teufelskreis Übergewicht

Bewegungsarmut ist ein Problem im Homeoffice. Eine repräsentative Online-Umfrage des Instituts INSA-Consulere im Auftrag des rbb bei 706 Menschen aus Berlin und Brandenburg im Februar 2021 offenbarte: Fast ein Drittel hatte zugenommen: im Durchschnitt sogar 5,5, kg. Diese Zahlen wurden im Juni von einer Studie der Technischen Universität München bestätigt, allerdings waren nun schon 40% betroffen. Es betraf in fast allen Fällen diejenigen, die schon mit Übergewichtigkeit kämpften.

2. Geistige Fitness: Abbau durch Bewegungsmangel

In einer Studie von LOVEDAY an der University of Westminster sagten 80 Prozent der Teilnehmer aus, dass sich ihr Gedächtnis mindestens in einer Hinsicht während der Pandemie verschlechtert habe, z.B. hinsichtlich Kreativität. Eine mögliche Erklärung liegt im Bewegungsmangel. So stellten brasilianischen Kollegen fest, dass Probanden, die während der Krise körperlich aktiv blieben, weniger von solchen Problemen berichteten. Das galt auch, wenn man andere Faktoren, etwa das Alter, mit einbezog. Der Hintergrund ist, dass jede Bewegung hilft, neue neuronale Verbindungen im Gehirn aufzubauen.

3. Merkfähigkeit: Gedächtnis braucht das interne GPS

In der virtuellen Arbeit ist unser Aktionsradius stark eingeschränkt. Dadurch wird unsere Merkfähigkeit geschwächt. Die Dresdner Arbeitspsychologin Dr. Ulla Nagel ist überzeugt, dass es neben der Bewegung im sportlichen Sinn eine weitere Bedingung gibt, die uns Erinnerung ermöglicht und die im Homeoffice leider nicht gegeben ist. Der französische Gehirnforscher Lionel Naccache erklärt, dass unser Episodisches Gedächtnis und das System zur Orientierung im Raum, sozusagen unser internes GPS, in ein und derselben Hirnstruktur, dem Hippocampus, lagern. Sie sind eng verknüpft.
Gedächtniskünstler nutzen diese Verbindung schon seit Jahrtausenden, ohne dass sie sie neurowissenschaftlich hätten begründen können. Mittels Loci-Technik verknüpfen sie das zu erinnernde Material mit einem festen Platz im Raum. Es heißt, dass ein Mensch, der viel weiß, „erfahren“ ist. Das bedeutet, dass er gereist ist, und nicht nur im Umkreis immer dieselben Wege gelaufen ist. Er ist weg’gefahren‘ und hat sich das geografische Netz des besuchten Raumes erschlossen. Dadurch prägte er eine Gehirnstruktur aus, die für Gedächtnisinhalte aufnahmefähig ist. Das kann man sich ähnlich einer wachsenden Bibliothek vorstellen, in der die Dokumente an einem wieder auffindbaren Ort abgelegt werden. Erfahrungen, die man an dem immer selben Screen macht, können sich nicht räumlich verorten. Sie überlagern sich, verwässern sich, löschen sich ggfs. aus. Fraglich ist, ob die Suche im Internet ein ähnliches GPS in uns aufbauen kann wie eine physische Reise auf der Erde. Gemäß der Untersuchung von Betty Sparrow über „Google effects on memory“ (2011) findet bei Fragen, deren Antworten unbekannt sind, eine kognitive Verinnerlichung der Internetsuchmaschinen statt. Das Gedächtnis hat sich durch die externen Speicher (Smartphone, Tablets) bereits verändert.

Was können Unternehmen vorbeugend tun?

Einige Firmen haben die Gelegenheit genutzt, teure Mietflächen zu verkleinern oder Gebäude ganz abzustoßen. Sie erhoffen sich Sparpotenziale. Wird diese Rechnung aufgehen, fragen wir die Arbeitspsychologin Dr. Ulla Nagel? Sie glaubt, dass Firmen kurzsichtig handeln, wenn sie kein strategisch-inhaltliches Konzept hinter Büroschließungen legen. Die Lösung scheint wie so oft in der Mitte zu liegen. Dr. Nagel und ihr Team empfehlen alternierendes Homeoffice, das an 2 bis 3 Tagen die Woche stattfindet. Es erscheint als eine gute Anpassung, um alle Vorteile zu heben und Nachteile auszuschließen.
Betriebliche Arbeitswelten sollten auch zukünftig Bestand haben, müssen sich aber verändern, um attraktiv zu bleiben: Sie sollten schicker und gemütlicher sein, sozusagen Arbeitszimmer und Küche miteinander verbinden. Es sollten Räume geschaffen werden, in denen keine Arbeitstische stehen, die zum Zentrum des Austausches werden – wie im gemeinsamen Wohnzimmer zu Hause. Grünflächen, angelegt wie kleine Gärten, ermöglichen den Austausch im Freien, bieten kreativen Freiraum, den jeder auch im Homeoffice schätzt. Es geht also weniger um die Einsparung von Mietflächen, das hält Ulla Nagel für eine Sackgasse, sondern um eine veränderte Nutzung.

Wie ermitteln Unternehmen die Auswirkungen des Homeoffices auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter:innen?

„Befrage die Betroffenen selbst!“, lautet hier die Antwort von Ulla Nagel. Im Austausch finden Führungskräfte und Belegschaft die für sie passenden Konzepte. Eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen kann hervorragend genutzt werden, um die Belastungen zu analysieren und Zukunftslösungen zu diskutieren. Mittels Befragungen, Interviews oder Workshops – die digital oder persönlich durchgeführt werden können – finden Unternehmen heraus, welche Bedingungen gut sind und wo noch nachgebessert werden muss. Dazu sind Arbeitgeber seit 2015 durch das Arbeitsschutzgesetz § 4 und 5 verpflichtet. Dennoch sind sich viele Führungskräfte immer noch unsicher, wie sie dieser Verantwortung gerecht werden können.

Abb.: Antworten auf Zusatzfragen zu pandemiebedingten psychischen Belastungen und Beanspruchungen – psy.Res®-Befragung 2021 in einem großen Dienstleistungsunternehmen: Es besteht Handlungsbedarf.  

 

Dr. Ulla Nagel aus Dresden begleitet schon seit 2004 Unternehmen und Einzelpersonen beim Thema „Gesunde Arbeit“. Daher weiß sie, worauf es ankommt, wenn man psychische Belastungen in der Arbeit untersuchen will. Sie rät, darauf zu achten, dass das verwendete Verfahren wissenschaftlich validiert ist. Eine fundierte Grundlage bietet z.B. das psy.Res®-Modell. Es legt den Blick sowohl auf die sozialen Bedingungen wie Führung, Team und Organisationsklima, als auch auf gegenständliche Aspekte wie Betriebsorganisation, Tätigkeitsinhalte und vorhandene Tools. Das psy.Res®- Verfahren bietet einen Rundumcheck der eigenen psychischen Gesundheit – ähnlich einem großen Blutbild beim Arzt, wenn es um die körperliche Verfassung geht.

Abb.: Beispiel: Beurteilung der Faktoren gesunder Arbeit nach dem psy.Res®-Modell in einem Team
Thomas Schäfer, Geschäftsführer DKMS Life Science Lab gGmbH fasst seine Erfahrungen zusammen: „Wer ernsthaft am Wohlbefinden seiner Mitarbeiter interessiert ist, kommt an einer tiefgründigen Befragung zur Bestandserhebung und dem intensiven Arbeiten an Verbesserungspotentialen nicht herum. Hierfür bietet das psy.Res®-Konzept von Dr. Ulla Nagel und ihrem Team in Dresden genau den richtigen Ansatz. Alle Führungskräfte und Mitarbeiter werden intensiv abgeholt und können ihre Bedenken und Fragen anbringen.“ Für Sonja Schilg, Geschäftsführerin des Staatlichen Weinguts Schloss Wackerbarth, ist der Erhalt eines vertrauensvollen Betriebsklimas wichtig. Sie lobt, dass das Projekt vom Team der Dr. Ulla Nagel GmbH mit „mit professioneller Hand und Empathie“ gesteuert wurde.

Abb.: Sonja Schilg, Geschäftsführerin des Staatlichen Weingutes Schloss Wackerbarth, vor den Weinbergen in Radebeul.

Wie kommt man zu den passenden Zukunftslösungen?

Abb.: Steuerkreis GBU Psyche im Center Fahrbetrieb der DVB AG, mit Vorstand Lars Seiffert und Centerleiter Jan Silbermann.
Eine Befragung ist nur der erste Schritt. Viel wichtiger ist, wie mit den Ergebnissen weitergearbeitet wird. An diesem Punkt haben viele Führungskräfte Schwierigkeiten. Bei Mitarbeitenden entsteht dann der Eindruck, dass Befragungsergebnisse in Schubladen verstauben, ohne dass etwas damit passiert. Auch hierbei unterstützt das Team der Dr. Ulla Nagel GmbH. Durch moderierte Auswertungsworkshops – face to face oder auch virtuell – werden die Mitarbeitenden motiviert, an der Veränderung mitzuwirken. Die Lösungsideen, die Mitarbeiter generieren, sind immer wieder überraschend und verweisen auf kreative Potenziale, die genutzt werden wollen!
Ein Workshop endet mit Lösungen und konkret abgeleiteten Maßnahmen, die den Arbeitsplan für die nächsten Monate bestimmen. Jan Silbermann, Centerleiter Fahrbetrieb der Dresdner Verkehrsbetriebe resümiert: „Das psy.Res®-Projekt mit Frau Dr. Nagel und ihrem Team hat die Grundlage für viele Änderungen gegeben und war ein Anstoß, Zukunftsthemen zu platzieren… Ich würde es immer wieder so machen.“